Im November 2023 beschließen Bund und Länder, bundesweit eine Bezahlkarte für Asylsuchende einzuführen. Das wenige Geld, das Asylsuchenden gesetzlich zusteht, soll von Kommunen nicht mehr bar ausgezahlt, sondern als Guthaben auf eine Debitkarte gebucht werden. Doch die Bezahlkarte funktioniert technisch nicht nur anders als eine gewöhnliche Giro- oder Kreditkarte. Sie stigmatisiert und grenzt aus – und das ist politisch gewollt.
Die Asylsuchenden sollen kein Geld überweisen können, die Karte soll nur in bestimmten Gebieten und Geschäften nutzbar sein und gebührenfrei bezahlen oder abheben wird nicht überall garantiert. So lauten Teile der „bundesweiten Mindeststandards“, die von den Ländern in einer Arbeitsgruppe Ende Januar 2024 festgelegt wurden. Diese Standards sind gleichzeitig die technischen Anforderungen an den privaten Dienstleister, der im Auftrag der Länder die Karte bereitstellen soll. Die Datenschutzaufsichtsbehörden des Bundes und der Länder nennen in ihrem Bericht vom August 2024 einige der Anforderungen „rechtswidrig“.
Wir haben alle Unterlagen der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung der „bundesweiten Mindeststandards“ der Bezahlkarte über das Informationsfreiheitsgesetz angefragt und analysiert. Vorab haben wir die Dokumente mit Zeit Online geteilt. Sie zeigen: Die Länder haben mit Unterstützung des Bundes die Mindeststandards bewusst in eine Richtung gelenkt, die gegen Grund- und Datenschutzrechte verstößt. Denn sie wollten vor allem ein politisches Ziel erreichen: Asylsuchende abschrecken.
„Charakter einer Schikanemaßnahme“
Im ersten Moment klingt eine Bezahlkarte sinnvoll. Befürworter*innen sagen, dass es Kommunen entlaste und langen Warteschlangen vor den Ämtern entgegenwirke. Doch das ist nur ein vorgeschobener Grund, warum der Bund und die Länder die Bezahlkarte für Asylsuchende einführen. Der viel politischere und somit auch schwerwiegendere Grund dafür ist,
„Anreize für illegale Migration“
Der Begriff „illegale Migration” ist irreführend. Jeder Mensch, der einen Asylantrag stellen will, muss ohne Visa nach Deutschland einreisen – de jure illegal, de facto die einzige Möglichkeit, um Asyl zu beantragen.
Quelle: ProAsyl
zu senken. So argumentiert der Vorsitzende der Länderarbeitsgruppe und die damalige Ampel-Regierung.
Das politische Ziel, Asylsuchende davon abzuhalten, nach Deutschland zu kommen, wird die Bezahlkarte allerdings verfehlen. Das sagt unter anderem der wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Denn Sozialleistungen seien kein „Pull-Faktor“ für Menschen, die Asyl beantragen. Das heißt, sie sind nicht der Grund, warum Menschen die oft lebensgefährliche Flucht nach Deutschland auf sich nehmen. Auch dass häufig Geld aus den Sozialleistungen in die Herkunftsländer geschickt werde, widerlegte erst kürzlich eine Studie.
Es könnte allerdings passieren, dass Asylsuchende in Deutschland durch die Bezahlkarte noch stärker ausgegrenzt und diskriminiert werden. Der anwaltliche Grundrechtsverein Gesellschaft für Freiheitsrechte schreibt: „Die Bezahlkarte hat den Charakter einer Schikanemaßnahme.“
„Nicht verfassungskonform“
In den „Mindeststandards“ haben die Länder festgelegt, dass die Nutzung der Karte „auch ohne Gebühren möglich sein muss“. Was das in der Praxis bedeutet, zeigt sich in Hamburg, wo die Karte bereits verwendet wird: Die ersten 20 Zahlungen sind kostenfrei, dann fallen Gebühren an. Insgesamt dürfen 50 Euro pro Monat an Geldautomaten abgehoben werden. Jedes Mal Abheben kostet zwei Euro. Diese Kosten tragen die Asylsuchenden. Sie müssen die Abhebegebühren von den 185 Euro, die ihnen monatlich zustehen, bezahlen.
Wie es dazu kam, dass den Asylsuchenden die Gebühren angelastet werden, zeigen die Dokumente, die wir veröffentlichen. Die Länderarbeitsgruppe ist sich laut den Protokollen uneinig, wer die Gebühren übernehmen soll. Asylsuchende sollen die Bezahlkarte kostenfrei nutzen können, doch die Banken werden „auf die Gebühren nicht verzichten“, notieren sich die Länder.
Gebühren bei der Nutzung der Karte
Hessen hat für die Arbeitsgruppe daraufhin geprüft, ob es rechtlich möglich wäre, den Asylsuchenden die Gebühren anzulasten. Die hessische Staatskanzlei fasst ihre Erkenntnisse in einer E-Mail folgendermaßen zusammen: Menschen „strukturell“ zu zwingen, Abhebegebühren zu zahlen, sei „nicht verfassungskonform“, da das „derzeitige Leistungsniveau die untere Grenze zur Verfassungskonformität darstellt“. Das heißt, Asylsuchende bekommen bereits so wenig Geld, dass sie geradewegs ihre Existenz sichern können, weshalb ihnen nicht noch mehr genommen werden darf. Dazu wird auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen, die sich auf Artikel 1 des Grundgesetzes beruft: Die Würde des Menschen ist unantastbar – und ein Leben unter dem Existenzminimum sei unwürdig.
Rechtliche Einschätzung
Dennoch wollen sich die Länder nicht darauf festlegen, die Gebühren vollumfänglich zu zahlen. Sie entscheiden sich daher für eine schwammige Formulierung, die sich später auch in den Anforderungen an den privaten Dienstleister, der die Karte technisch umsetzt, wiederfindet: „Die Nutzung der Karte muss für die Leistungsberechtigten ohne zusätzliche Gebühren möglich sein.“
Formulierungsvorschlag
Fachlich nicht überzeugt
Das ist nicht der einzige Punkt, der in der Arbeitsgruppe diskutiert wurde und womöglich im Konflikt mit dem Grundgesetz steht. Nicht nur Asylsuchende, sondern auch Analogleistungsberechtigte sollen eine Bezahlkarte bekommen. Fast alle Bundesländer haben uns nach einer Presseanfrage bestätigt, dass sie das planen.
Als „analogleistungsberechtigt“ gelten Asylsuchende, die länger als 36 Monate in Deutschland sind. Die Personen können geduldet sein, auf eine Asylentscheidung warten oder in einem Klageverfahren gegen einen Asylbescheid sein. Der Großteil lebt nicht mehr in Gemeinschaftsunterkünften. Um Miete, Lebensmittel und alles weitere für den täglichen Bedarf bezahlen zu können, bekommen Analogleistungsberechtigte eine Form der Sozialhilfe. Für Alleinstehende Erwachsene sind das 460 Euro pro Monat sowie Geld für die Kosten der Unterkunft.
Dokumente, die wir veröffentlichen, zeigen, dass auch an diesem Punkt in der Länderarbeitsgruppe auf einen möglichen Grundrechtsverstoß hingewiesen wurde. Das Bundesarbeitsministerium ließ in seiner Fachabteilung prüfen, ob auch Analogleistungsberechtigte eine Bezahlkarte erhalten können. Das Ergebnis: „Es bestehen erheblich Zweifel, ob eine derartige Bestimmung verfassungskonform wäre.“ Doch die rechtliche Einschätzung wird von dem Referatsleiter verändert, da er dies für eine „steile These“ und „apodiktische“, also keinen Widerspruch duldende, Aussage hält.
E-Mail des Referatsleiters
Also schwächt die untergeordnete Abteilung auf Anweisung ihres Chefs die Stelle ab und kommentiert die Änderungen mit dem Satz „ohne persönlich fachlich überzeugt zu sein“, als die neue und abgeschwächte Fassung an den Referatsleiter übersendet wird. Das zeigen E-Mails, die wir mit dem Informationsfreiheitsgesetz erlangt haben und veröffentlichen.
Antwort aus der Fachabteilung
Klage wegen Grund- und Datenrechtsverstößen
Der private Anbieter, der im September 2024 den Zuschlag für die Bezahlkarte in 14 Bundesländern bekommen hat, betreut das Pilotprojekt in Hamburg. Es handelt sich dabei um das Unternehmen Publk und einige Partnerunternehmen, wie den Zahlungsdienstleister Visa, der die Debitkarten bereitstellt. Gezahlt werden kann mit der Bezahlkarte also nur dort, wo Visa als Zahlungsdienstleister und Debitkarten akzeptiert wird. In der Praxis fallen dadurch viele günstige Einkaufsmöglichkeiten weg, wie Flohmärkte, karitative Einrichtungen oder der Kiosk um die Ecke. Dazu kommen Mindestumsätze und Gebühren, wenn die Karte akzeptiert wird.
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte sagt, dass die Bezahlkarte in Hamburg in ihrer aktuellen Form gegen Grund- und Datenschutzrechte verstößt. Der Grundrechtsverein hat diese Woche eine Klage eingereicht. Die Bezahlkarte verletzte Asylsuchende in ihrem „grundrechtlichen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sowie in ihrem Recht auf Gleichbehandlung“. Denn durch die weitreichenden technischen Restriktionen und die Gebühren sei es nicht möglich, den notwendigen persönlichen Bedarf zu decken.
Welche Daten der Asylsuchenden an das Unternehmen Publk und ihre Subanbieter, wie Visa und Secupay, übermittelt werden, ist unklar. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte schreibt in ihrer Klage, dass die Asylsuchenden „bisher keine Informationen zur Verarbeitung ihrer Daten erhalten“ haben. Die Grundrechtsanwält*innnen regen daher an, dass das Gericht die Hamburger Behörde dazu auffordert, Auskunft zu geben, ob die Behörden den Guthabenstand einsehen können und welche Daten an die Unternehmen weitergeleitet werden.
Daten werden an Google übermittelt
Die beiden IT-Sicherheitsexperten Tim Schäfers und Niklas Klee haben die SocialCard von Publk auf Schwachstellen getestet. Ihr Fazit: Die bisherige technische Umsetzung der Bezahlkarte weist Datenschutzverstöße auf. Bei der SocialCard seien Tracker hinterlegt. Das heißt, personenbezogene Merkmale, wie asylsuchend zu sein oder Sozialhilfe zu beziehen, werden möglicherweise ohne Zustimmung an Google und Facebook übermittelt.
Schäfers und Klee haben Publk bereits im Frühjahr 2024 auf diese Lücken hingewiesen. Auch wir haben erneut bei dem Anbieter nachgefragt: Die Tracker seien entfernt worden, sagt uns Publk. Laut IT-Experten Schäfers stimmt das nur zum Teil. Der Tracker für Google sei weiterhin aktiv. Das Tech-Team von FragDenStaat hat sich die App ebenso heruntergeladen und bestätigt, dass weiterhin Tracker aktiv sind. Laut einer Kleinen Anfrage in Hamburg habe man den Dienstleister vor der Pilotierung ausreichend geprüft, insbesondere darauf wie die Daten verarbeitet und gespeichert werden. Details zum Ablauf der Prüfung geben Sozialbehörde und Unternehmen auf Nachfrage nicht bekannt.
Die beiden IT-Sicherheitsexperten hatten jedoch keinen Zugriff auf den gesamten Code und konnten so nur Teile analysieren. „Wenn wir so etwas als Gesellschaft haben wollen, dann sollte die Nutzung der Daten transparent und nachvollziehbar sein“, sagt Schäfers. Ansonsten sei der Staat von den Aussagen der Anbieter und den Subunternehmen abhängig. „Von dem, was ich bisher gesehen habe, halte ich es nicht nur aus rechtlichen, sondern vor allem aus Datenschutzgründen für absolut unverantwortlich, wenn die AZR-Nummer mit den Unternehmen geteilt werden würde“, so Schäfer.
Risiko für hochsensible Daten
Die Länder haben sich bei den „bundesweiten Mindeststandards“ im Januar 2024 nämlich darauf geeinigt, dass die Bezahlkarte „mindestens mit der AZR-Nummer verknüpft“ werden soll. Im Ausländerzentralregister (AZR) werden alle Menschen erfasst, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben und länger als drei Monate in Deutschland leben. Neben biometrischen Daten findet man durch diese Nummer auch Details zu politischer Überzeugung, sexueller Orientierung oder psychischen Erkrankungen. Geraten diese Daten in die falschen Hände, kann das lebensbedrohlich sein. Bisher ist diese Nummer nur wenigen Behörden, wie dem Bundesamt für Migration (BAMF) zugänglich.
In der Arbeitsgruppe der Länder wird argumentiert, dass eine solche Verknüpfung der AZR-Nummer Missbrauch vorbeugen könnte. Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) äußert in der Arbeitsgruppe datenschutzrechtliche Bedenken und fragt, ob das wirklich notwendig sei. Das Bundesinnenministerium (BMI) ist jedoch für die rechtliche Prüfung verantwortlich – und sieht kein Problem. Nach Datenschutzgrundverordnung könne die zuständige Behörde einen Dienstleister mit der Verarbeitung der Daten beauftragen.
Einschätzung des BMI
Die Datenschutzaufsichtsbehörde des Bundes und der Länder sieht das allerdings in einem Bericht, der im August 2024 veröffentlicht wurde, ganz anders: „Nach gegenwärtiger Rechtslage ist eine Weitergabe der Ausländerzentralregister-Nummer (AZR-Nummer) an den Dienstleister rechtswidrig.“ Grundsätzlich würde ein Datenaustausch auch keine „neuen Erkenntnisse liefern und ist daher nicht erforderlich“. Was es allerdings mit sich bringen würde: ein Sicherheitsrisiko für die hochsensible Daten, die damit verknüpft sind.
Ob die AZR-Nummer mit der Bezahlkarte schlussendlich verknüpft wird, das entscheidet jedes Land für sich. Auf Nachfrage haben einige Länder, wie Thüringen, gesagt, dass sie es aufgrund der aktuellen Lage doch nicht planen. Andere, wie Sachsen, schreiben, dass dies „noch nicht entschieden“ sei. Brandenburg sagt, man werde Treffen mit dem Dienstleister Publk abwarten.
Wie wichtig es ist, egal wie gut sich das Unternehmen präsentiert, darauf zu achten, wo hochsensible Referenzdaten verarbeitet werden, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Denn die Idee für die Bezahlkarte ist nicht neu. Ein Pilotprojekt, über das wir bereits berichtet hatten, hätte eigentlich von Jan Marsalek und Wirecard als Dienstleister in Bayern umgesetzt werden sollen. Das Projekt wurde jedoch nie realisiert, da Marsalek zuvor untertauchte und mittlerweile bekannt ist, dass er ein russischer Spion war.
Das Land Hamburg, welches die Bezahlkarte bereits eingeführt hat, möchte „perspektivisch“ noch einen Schritt weiter gehen. Die Hansestadt möchte laut den Dokumenten rechtlich prüfen lassen, ob es die Bezahlkarte bei allen Menschen, die Sozialhilfe beziehen, einsetzen kann.
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