Der Verfassungsschutz hat weit mehr Menschen gerettet als bisher bekannt


Am Abend des 3. Juni 2023 umzingelte die Polizei 1.324 Menschen, nachdem es bei einer Demonstration zu Übergriffen auf Beamte kam. Es handelte sich wohl um den größten Polizeikessel in der Geschichte der Bundesrepublik. Unter den Eingeschlossenen befanden sich mehrere friedliche Teilnehmer, unbeteiligte Anwohner, Dutzende Jugendliche und zwei Kinder. Fast alle von ihnen werden mittlerweile seit fünf Jahren vom deutschen Verfassungsschutz erfasst – weit mehr als bisher bekannt.

In der Klage heißt es: Der sächsische Verfassungsschutz habe falsche Angaben gemacht

Im September 2024 konnten wir erstmals öffentlich machen, dass das Sächsische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV Sachsen) 589 der Eingeschränkten im Gemeinsamen Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) der deutschen Geheimdienste erfasst hat. Betroffen waren alle damals von der Polizei festgenommenen und in Sachsen gemeldeten Personen. Damit der Verfassungsschutz uns dies zugestehen konnte, mussten wir ihn zunächst auf der Grundlage des Presserechts verklagen.

Allerdings hat uns der sächsische Verfassungsschutz neben dieser Zahl auch falsche Angaben gemacht. Grund für die Speicherung war, dass die Staatsanwaltschaft Leipzig gegen die Personen ermittelt. „Dass und wegen welcher Vorwürfe gegen die Betroffenen ermittelt wird, hat die Staatsanwaltschaft dem LfV mitgeteilt“, schrieb uns die Behörde. Aber das war falsch. Kurz nach Veröffentlichung unseres Textes dementierte die Staatsanwaltschaft Leipzig jegliche Beteiligung: Es seien von dort keine Daten an den Verfassungsschutz weitergegeben worden. Erst nach weiteren Nachfragen korrigierte der sächsische Verfassungsschutz seinen ursprünglichen Bericht. Tatsächlich wurden die Daten vom Landeskriminalamt (LKA) Sachsen weitergegeben und gelangten in die Datenbank des Verfassungsschutzes.

Landeskriminalamt gab Daten weiter

Das sächsische LKA bestätigte auf Nachfrage, dass es die Daten der Eingeschränkten an den sächsischen Verfassungsschutz weitergegeben habe – allerdings nicht nur der knapp 600 in Sachsen ansässigen Personen, sondern aller 1.322 eingekreisten Straftäter. Das LKA weist zudem darauf hin, dass laut Gesetz der Verfassungsschutz Sachsens für die Datenweitergabe an andere Verfassungsschutzbehörden zuständig sei. Die Menschen, die im Juni 2023 in Leipzig bis zu elf Stunden in Polizeigewahrsam verbringen mussten, kamen aus dem In- und Ausland.

Der Verfassungsschutz des Landes Sachsen hat Ihre Daten an die jeweils anderen Landesverfassungsschutzbehörden weitergeleitet. Die Daten von 123 Personen landeten beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Über diese Behörden wurden nahezu alle Betroffenen der Leipziger Polizeieinkesselung in der Datenbank des Bundesamtes für Verfassungsschutz registriert. Dort werden Ihre Daten nun für die nächsten fünf Jahre für die Sicherheitsbehörden gespeichert.

Datenschützer und Juristen hatten bereits im September die umfangreichen Speicherpraktiken im Zusammenhang mit dem Polizeikessel kritisiert. „Hier wurde eine offensichtlich unverhältnismäßige polizeiliche Maßnahme als Grundlage für die umfangreiche Weitergabe und Erhebung von Daten herangezogen“, sagte der ehemalige baden-württembergische Landesdatenschutzbeauftragte Stefan Brink. Da so viele Menschen umzingelt sind, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich Unbeteiligte unter ihnen befinden.

→ für frühere Recherchen

→ zur Klage gewonnen



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